NACH OBEN

Heute Glauben denken

17.06.2020

Wie wohl kaum ein anderes Phänomen der letzten Jahrzehnte hat die Coronapandemie wesentliche Elemente unseres Selbstverständnisses, unseres Zusammenlebens oder auch unserer Praktiken dramatisch verändert. Was bis zu deren Ausbruch noch gesichert schien, was wie selbstverständlich vorausgesetzt und auch bei der Gestaltung der Zukunft als unhinterfragte Basis dienen konnte, scheint wie weggewischt. Ungebremstes Vertrauen in technologischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum im globalisierten Maßstab, ohnehin erschüttert durch die Klimakrise, scheint nun an sein Ende gekommen.

Eine romantische, teilweise religiös aufgeladene Beziehung zu einer angeblich unschuldigen Natur als Ressource von Kultur und Gesellschaft zeigt sich zutiefst irritiert. Die Fragilität menschlicher Existenz bricht dramatisch auf, wobei zugleich für sensible Geister deutlich wird, dass der Virus nicht alle gleich macht. Soziale Stratifzierung und kulturelle Differenzen werden auf geradezu brutale Weise offengelegt und bis in politische Auseinandersetzungen hinein dynamisiert. Social Distancing, als Mittel gegen die Infektionsverbreitung vorgeschrieben, bekommt in dieser Sicht eine dunkle Seite. Andererseits zeigen sich solch starke Aufbrüche von Solidarität wie auch bürgerschaftliches Engagement für die Schwächeren, die man in den verzweigten Prozessen der Individualisierung und Pluralisierung nicht erwartet hätte. Menschen stehen für einander ein, bilden Einkaufsgemeinschaften, sprechen sich Mut zu und versuchen so Sinn zu generieren und der Krise zu trotzen. Wenn diese hier nur ziemlich eklektisch zusammengetragenen Momente so etwas wie die „Zeichen der Zeit“ (GS 4) sind, wie es maßstabsetzend das II. Vatikanische Konzil einmal ausdrückte, dann betrifft dies unmittelbar auch die Theologie. Fragen der Gerechtigkeit und der Identität, Fragen der Ethik, Fragen der Hoffnung und des Leidens, die wie vermittelt auch immer in den spannungsvollen Vollzügen säkularisierter Existenz an Gott gestellt und in der Theologie als Theodizeefrage traktiert werden, Fragen liturgischer und kirchlicher Gemeinschaft, Fragen biblischer Horizonte und viele andere mehr brechen auf. Mit einem Wort: die ganze Theologie in ihrer Breite und Tiefe ist aufgefordert, sich zu positionieren. Dies gilt freilich in einem besonderen Maße für unsere Fakultät: nicht nur, weil sie als Fakultät ein breites Spektrum theologisch relevanter Felder bedenken kann und damit auskunftsfähig ist, sondern vor allem aufgrund ihres Leitbildes: Glauben.Denken.Heute. Heute, in dieser Zeit, gilt es den Glauben denkend auszuweisen, sich als Theologie anfragen zu lassen und diese kritisch wie konstruktiv in den diversen Öffentlichkeiten in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft einzuspielen. Deshalb nehmen wir diese Herausforderung an. Wir tun dies, indem wir dem auch methodisch Rechnung tragen. Wir eröffnen eine neue Rubrik auf unsere Website: Heute Glauben denken. Der Akzent ist klar: es gilt, drängende Gegenwartsfragen für die Theologie anzunehmen und diese aus den Perspektiven verschiedener Bereiche der Theologie zu diskutieren. Diese Rubrik soll ein Ort theologischer Diskursivität sein. HEUTE – das nehmen wir als Aufforderung, das erste Kapitel dieser neuen Rubrik mit der Coronapandemie zu beginnen. Dazu sind bereits verfasste Texte bereits eingestellt. Alle theologisch Interessierten sind herzlich eingeladen, weitere Texte, Videos, Podcasts etc. an das Dekanat einzusenden, die dann nach redaktioneller Bearbeitung durch die Lehrstühle veröffentlicht werden. Weitere Kapitel zu neuen Themen können und werden folgen. Ich bedanke mich herzlich für die Initiative und für das Engagement, in denen die Innovationskraft und das Potential unserer Fakultät eindrucksvoll deutlich wird. Prof. Dr. Bernhard Grümme Dekan